"Wir sind wie eine große Familie"

"Glück empfinden zu können, ist eine Fähigkeit, die Menschen mit und ohne Behinderung verbindet", sagte einst der sechste Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Seit 50 Jahren werden bei der Nagolder Lebenshilfe Menschen mit Behinderungen begleitet. Wie es um das Glück steht? Das empfinden dort Behinderte wie Nichtbehinderte.

Seit vielen Jahren dabei: Czeslaw Roik (von links), Maria Kistner, Petra Willfurth, Sigrid Baranek und Holger Luik

Nagold. "Wie alt ist denn Manuel Neuer jetzt eigentlich?", möchte Björn Dietz wissen. "33. Und sein Vertrag soll demnächst bis 2023 verlängert werden", antwortet Martin Leiser wie aus der Pistole geschossen, während der Tisch für das gemeinsame Abendessen bei dem Erwachsenenangebot "Mittwochstreff" in der Lebenshilfe Oberes Nagoldtal gedeckt wird. Fußball sorgt hier am Tisch für ebenso gute Gespräche wie Schlagermusik, wie die von Andrea Berg. Erst im März diesen Jahres waren Mitglieder und Nichtmitglieder des Lebenshilfe-Vereins gemeinsam nach Aspach bei Backnang gefahren, um dort unter anderem ein Konzert der erfolgreichen Schlagersängerin zu besuchen. So kommen einige Andrea Berg-Fans am Tisch über ihre Musik zu sprechen.

"Ich unterbreche die Gespräche ja ungerne, aber ist jetzt jeder auch mit einem Toast versorgt?", fragt Czeslaw Roik in die Runde. Roik arbeitet am Jettinger Standort der Firma Häfele und ist seit elf Jahren auch bei der Lebenshilfe tätig. Zehn Jahre lang war Roik ehrenamtlich tätig, seit etwa einem Jahr ist er bei der Lebenshilfe bürgerschaftlich engagiert.

Anfangs war sich Roik noch etwas unsicher: "Ich hatte noch nie etwas mit Menschen, die eine Behinderung haben, zu tun gehabt", berichtet er. Doch schon bald verschwanden seine Zweifel. "Und heute ist er nicht mehr von uns wegzudenken", bemerkt Sigrid Baranek, Leiterin der Geschäftsstelle.

Roik hat in den vergangenen elf Jahren viel miterlebt. "Wir sind wie eine große Familie", meint er. Eine noch ganz frische Erinnerung flackert in ihm auf – gut erinnert er sich noch an den vergangenen September, als die Fußballmanschaft des Nagolder Lebenshilfevereins an dem CfR-Cup in Pforzheim teilgenommen hat und sogar den ersten Platz in der Kategorie D belegen konnte. "Diesen Erfolg mit unseren Kickern zu feiern", erinnert er sich mit leuchtenden Augen, "das war echt super. Bei solchen Erfolgserlebnissen wirken alle wie neu geboren." Zu beo­bachten, wie die gehandicapten Fußballer beim Sport "mehr Mut und mehr Selbstbewusstsein" gewinnen, löse bei Roik "große Gefühle" aus: "Das fühlt sich an wie ein Preisgewinn", sagt Roik.

Wie Czeslaw Roik suchte auch Holger Luik nach "etwas Sinnvollem" und kam – wie auch Roik – über die Freiwilligenagentur der Stadt Nagold zur Lebenshilfe Oberes Nagoldtal. "Das gucke ich mir mal an", dachte er sich damals und griff sogleich zum Telefon. "Die Chemie stimmte sofort", erinnert sich der Lehrer im Ruhestand genau. Seit vielen Jahren ist Holger Luik nun ehrenamtlich bei der Lebenshilfe Oberes Nagoldtal tätig. Am besten gefalle ihm die "entspannte Atmosphäre". Er verspüre keinerlei Belastung und sei "sehr gerne" bei den vielen Freizeitangeboten der Lebenshilfe dabei. Sein Fazit: "Alles, was man im Arbeitsleben gerne hätte, hat man hier bei der Lebenshilfe."

"Ich brauche den Umgang mit den Menschen", betont Maria Kistner, die auch bei der Lebenshilfe ehrenamtlich tätig ist. Menschen, die Behinderungen haben, werden von Kistner gelegentlich auch zu Hause betreut. Dabei geht sie auf die Wünsche der Behinderten ein: "Mal trinken wir Kaffee, mal verbringen wir die Zeit mit Spielen, manchmal gehen wir auch raus für einen Spaziergang", berichtet Maria Kistner. Besonders froh ist sie über die Zusammenarbeit zwischen der Geschäftsleitung und den Mitarbeitern: "Im ganzen Team herrscht ein toller Austausch miteinander. Das führt zu einer gegenseitigen Wissensbereicherung", macht Kistner deutlich.

"Es ist eines unserer großen Anliegen, auch unsere Mitarbeiter zu stärken", erklärt Sigrid Baranek, die die Geschäftsstelle leitet. Regelmäßige Teamsitzungen, Fallbesprechungen, ständige Informationsaustausche, sowie Fortbildungs- und Schulungs­angebote sollen dafür sorgen, dass niemand jemals auf sich allein gestellt ist. Zwar erhalte man Fördergelder und Zuschüsse vom Landkreis Calw. "Es gibt aber dennoch große Lücken für 2020", meint Baranek. Die Unterstützung durch ehrenamtlich und bürgerschaftlich Engagierte sei daher notwendig. Wer sich beim Nagolder Lebenshilfe-Verein engagieren wolle, sei "jederzeit herzlich willkommen", erklärt die Leiterin der Geschäftsstelle.

"Bei uns wird niemand ins kalte Wasser geworfen", versichert Petra Willfurth. Sie leitet bei der Lebenshilfe die offenen Hilfsangebote für den Erwachsenenbereich. "Jeder kann sich bei uns so einbringen, wie es ihm zeitlich passt", macht Willfurth deutlich. Auch die eigenen Interessen der Engagierten könnten bei der Lebenshilfe "sehr gerne eingebracht" werden, betont Willfurth.

Seit 50 Jahren werden bei der Nagolder Lebenshilfe Menschen mit Behinderungen begleitet. Engagieren kann man sich bei der Lebenshilfe im Rahmen von Einzel- oder Gruppenbetreuungsangeboten, Tagesausflügen, Freizeiten, Kursen, Projekten oder im Rahmen von Ferienprogrammen. Bei der Lebenshilfe sind auch Studenten gern gesehen, wenn sie während der Semesterferien aushelfen möchten. "Nur durch die Unterstützung der ehrenamtlich und bürgerschaftlich Engagierten können wir unser vielfältiges Programm aufrecht erhalten", meint Willfurth. Darüber hinaus werden für das kommende Jahr auch Fahrer und Rollstuhlschieber gebraucht.

Das breit gefächerte Programm der Lebenshilfe reicht von Spiel- und Sportangeboten, handwerklichen Arbeiten, Konzertbesuchen, Stadtbesuchen und Tagesausflügen in Museen oder Vergnügungsparks bis hin zu Kochkursen, bei denen das selbstgekochte Menü dann gemeinsam genossen wird.

Gegessen und getrunken wird auch bei den wöchentlichen "Mittwochstreffs". Saft, Kakao oder einfach nur Sprudelwasser. Dazu gibt es heute Schinken-Käse-Ananas-Toast. Das kommt bei allen gut an – auch bei Stephanie Bihler, die die Mittwochstreffs zwischen 16 und 18 Uhr leitet: "Die Toasts schmecken wirklich ausgezeichnet." Und derweil unterhalten sich Saskia Seeger, Martin Leiser und Czeslaw Roik über das am 2. Januar bevorstehende Fußballturnier in Horb am Neckar, bei dem der Nagolder Lebenshilfe-Verein einmal mehr mit seiner eigenen Mannschaft auflaufen wird. Und dann, wenn es darum geht, mal wieder einen Pokal einzufahren, will Torwart Martin Leiser seinen Teil dazu beitragen und seinen Kasten möglichst sauber halten – wie seine beiden großen Vorbilder Sven Ulreich und Manuel Neuer vom FC Bayern München.

Von Selim Gezener 19.12.2019 - 18:20 Uhr